Hauptinhalt
Topinformationen
DIGITAL HUMANITIES [WITH FRIENDS] – BERICHTE AUS INTERDISZIPLINÄRER PRAXIS @ UOS.
Am 4. Mai 2023 hat sich das zweite Tiny Desk Kolloquium der Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung (NGHM) der Universität Osnabrück der Praxis interdisziplinärer Forschung und Lehre unter Nutzung von Ansätzen der Digital Humanities gewidmet. Als Tagungsort diente diesmal der Zimeliensaal in der Alten Münze, Partner waren die Universitätsbibliothek bzw. die dort angesiedelte Arbeitsgruppe Digital Humanities.
Zum Auftakt begrüßte Christoph Rass direkt aus einer Virtual Reality Umgebung die zahlreichen Gäste und die Referent:innen im gut besetzten Vortragsraum.
Zum Einstieg setzte er sich mit einem hochaufgelösten 3-D Modell des sogenannten Aly-Grabsteins auf dem Osnabrücker Johannisfriedhof auseinander, um ganz praktisch in die Themen des Workshops einzuführen: die Nutzung selbst erzeugter dreidimensionaler digital twins von Artefakten bzw. materieller Kultur in Forschung und Lehre, die Entwicklung geeigneter Werkzeuge und Konzepte zur Vermittlung in interdisziplinären Teams sowie schließlich die didaktische Reflexion und die Übersetzung der notwendigen Kompetenzen in Lehrinhalte.
Zentral ist für das Osnabrücker Team ist dabei, wie zwischen den Begriffen, Methoden und Konzepten, Fragestellungen, Werkzeugen und Arbeitsweisen sehr unterschiedlicher Disziplinen, etwa zwischen der Geschichtswissenschaft, der Geschichtsdidaktik, der Geophysik, der Fernerkundung bzw. der Informatik, Gesprächs-, Handlungs- und Kooperationsfähigkeit erreicht werden kann, ohne implizite oder explizite Hierarchien zwischen Leit- und Hilfsdisziplinen zu produzieren.
Neben Einblicken in erfolgreiche interdisziplinäre Arbeit verdeutlichte das Programm des Kolloquiums, dass die Digital Humanities nicht nur die Arbeit mit digitalisierten bzw. maschinenlesbar gemachten Versionen konventioneller Quellen der Geistes- und Kulturwissenschaften adressieren. Aktuell befasst sich das DH-Team um die Arbeitsgruppe Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung neben ihren datengetriebenen Projekten vor allem mit den Potentialen von 3-D Modellen, Virtual (VR) sowie Augmented Reality (AR) und der Integration naturwissenschaftlicher Daten in die Bearbeitung geschichtswissenschaftlicher und didaktischer Fragestellungen.
Die fünf folgenden Kurzvorträge setzten sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Fragestellungen in diesem Kontext auseinander. Den Anfang machten Frank Wolff und Christoph Rass (beide Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung) unter dem Titel “Mehr als digital twins: Virtualisierte Ausstellungen und Geschichtsvermittlung” mit einem Bericht über den Einsatz der kommerziellen App Matterport zur Digitalisierung von (temporären) Ausstellungssettings.
Dabei präsentierten sie exemplarisch zwei kürzlich fertig gestellte Prototypen: einen digital twin der aktuellen Dauerausstellung der Gedenkstätte Augustaschacht/Gestapokeller im Osnabrücker Schloss und die Dokumentation einer Posterausstellung aus der Abschlussitzung eines Proseminars im BA-Studiengang Geschichte. Deutlich wurde dabei, dass sich der Aufwand zur Herstellung solcher (Pseudo-)3-D Modelle als navigierbare Räume, die in der Immobilienwirtschaft bereits etabliert ist, inzwischen so reduziert hat, dass ihre Nutzung (auch) in Lehr- und Lernprojekten zu digital public history alltagstauglich wird.
Frank Wolff betonte in seiner Analyse, dass es dabei nicht vor allem um simple digital twins realweltlicher Orte geht, sondern gerade die Anreicherung dieser Modelle mit weiteren Daten, Kontexten, Medien – aber auch mit didaktischen Anleitungen bzw. Konzepten – mitgedacht werden sollte, wie beide Prototypen eindrücklich zeigen. Auch in der Möglichkeit, statische reale Ausstellungen in einer digitalen Version immer wieder neu zu kontextualisieren und zu reflektieren, hob er als einen wesentlichen Vorteil der hier erprobten Arbeitsweise hervor.
t
Lale Yildirim und Imke Selle (beide Professur für Didaktik der Geschichte) stellten in ihrem Beitrag unter dem Titel “Digital Literacy als Chance für partizipative digital public history im Geschichtsstudium” die theoretisch-empirische Begleitung der UOS-LehrZeit Forschen, Vermitteln, Ausstellen: VR-Lernräume in der Geschichtswissenschaft und ihres digital literacy Ansatzes vor. Das eigens dazu entwickelte Theorie-Modell fokussiert Chancen der Partizipation an Geschichtskultur und verankert über das Ziel, digitale geschichtskulturelle agency zu fördern, Ansätze der Didaktik der Geschichte in dem interdisziplinären Verbund, der das Lehrforschungsprojekt durchführt. Auf Basis dieser theoretischen Überlegungen stellte Imke Selle erste Ergebnisse einer empirischen Studie zur UOS-LehrZeit vor, die explorativ Vorstellungen von und Einstellungen zu Digitalität und Virtual Reality von Informatik- und Geschichtsstudierenden erhebt und vergleicht. Die Ergebnisse zeigen, wie weit unter Studierenden die Selbstwahrnehmung ihrer digitalen Kompetenzen auseinander klafft, und wie hoch zugleich das Potenzial interdisziplinärer Seminare und des Einsatzes von Virtual Reality im Studium von Studierenden eingeschätzt wird.
Michael Brinkmeier (Professur Didaktik der Informatik) vermittelte in seinem Vortrag “Gedächtnis-paläste und mehr: Lernräume in Virtual Reality” Einblicke in eines seiner Forschungsfelder: die Nutzbarmachung von Virtual Reality zur Konstruktion so genannter Gedächtnispaläste, die sich für den Einsatz in Studium oder Schulunterricht eignen und ihren Nutzer:innen flexible Möglichkeiten zur Raumkonfiguration und zur Platzierung von Wissenselementen gewähren. Deutlich wurde dabei, wie sich Prototypen solcher VR-Gedächtnispaläste und die dahinter stehenden Forschungsansätze mit der Entwicklung interaktiver digitaler Ausstellungssettings verbinden lassen. Diese Perspektive verband Michael Brinkmeier mit Einblicken in die Werkstatt seines Informatik-Master-Seminars, in dem sich Studierende im Rahmen der UOS-LehrZeit – und bereits in konkreter Kooperation mit Kommiliton:innen aus dem Historischen Seminar – mit der Entwicklung von Elementen solcher VR-Umgebungen befassen.
Wie komplexe digital twins historischer Orte entstehen, die dann Teil von VR-Ausstellungen werden können, zeigte Marcel Storch (mit Thom Jarmer, beide Arbeitsgruppe Fernerkundung am Institut für Informatik) in seinem Beitrag “Terrestrisches Indoor-Laserscanning: Der Osnabrücker Friedenssaal in 3-D”. Gegenstand eines ersten Prototyps, der für die LehrZeit hergestellt wurde, war der Osnabrücker Friedenssaal im Rathaus der Stadt. Dabei stellte er vor, wie mithilfe eines terrestrischen Laserscanners (TLS) hoch aufgelöste, fotorealistische 3-D-Modelle von Innenräumen erstellt werden können. Diskutiert wurde bei, wie sowohl die Raumgeometrie als auch mögliche Objekte, die Scan-Schatten verursachen könnten, bei der Planung der Scan-Positionen berücksichtigt werden müssen. Ebenso stellte Marcel Storch vor, dass für ein späteres Einfärben der 3-D-Modelle in Echtfarben eine gleichmäßige Ausleuchtung des Raums eine entscheidende Rolle spielte. Die beim Scan des Osnabrücker Friedenssaals erzeugte Punktwolke, legte er da, besteht aus über 77 Mio. Punkten mit einem durchschnittlichen Punktabstand von unter 1cm, das daraus errechnete 3-D Modell ist also sehr hoch aufgelöst und genau. Zugleich verwies der Referent auf eine Reihe zu lösender Probleme, etwa das auftretende Kantenrauschen des Sensors bei sehr filigranen Objekten (etwa dem Kronleuchter im Friedenssaal) sowie die Frage, inwiefern für VR-Modelle im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen derart hochaufgelöste Laserdaten benötigt werden, oder ob niedrigere Auflösungen denkbar wären, die eine Handhabung der Modelle in VR-Umgebunden stark erleichtern würde.
Nachdem zunächst kleine (Denkmal), dann etwas größere (Friedenssaal) 3-D Modelle Gegenstand waren, widmeten sich die Historikerin Mirjam Adam und der Geograph Andre Jepsen (beide Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung) zum Abschluss des Vortragsprogramms unter dem Titel “Geohistorical Approach: Digitale Erfassung und Vermittlung historischer Boden|Spuren” großen Geländemodellen, die im Rahmen von Projekten zu Gewaltorten (Konfliktlandschaften) entstehen, und der Integration von geophysikalischen Messdaten und geschichtswissenschaftlichen Analysen in solche Modelle. Mit ihrem Werkstattbericht zu digitaler Erfassung und Vermittlung von sogenannten Bodenspuren historischer Ereignisse gaben die beiden Referent:innen einen Einblick in die interdisziplinäre Praxis der Konfliktlandschaftsforschung an der Universität Osnabrück. Die praktische Ermittlung, Dokumentation und Analyse von materiellen Überresten in Konfliktlandschaften mithilfe geoarchäologischer, geschichtswissenschaftlicher und fernerkundlicher Methoden bietet, so ihr Fazit, dabei einerseits große Potentiale. Andererseits stellt die Zusammenarbeit zwischen Geschichtswissenschaft, Informatik und Geoarchäologie auch besondere Anforderungen an eine reflektierte Methodenintegration. Ganz praktisch demonstrierten Mirjam Adam und Andre Jepsen schließlich, wie bei der Feldforschung erfasste Daten als digitale Repräsentationen in Vermittlungskontexten genutzt werden können. Dabei stellten sie ausgehend von größeren Landschaftsmodellen, Modelle kleinerer Funden sowie ein Modell zur Integration unterschiedlicher Datenarten vor, die das Publikum gleich am eigenen “Smartphone” ausprobieren konnte. VR (Virtual Reality) wurde dabei als eine sich langsam alltagstauglich durchsetzende Technologie erkennbar, die zu einer Brücke zwischen wissenschaftlicher Praxis und digital public history werden kann.
Viele der Rückfragen und Kommentare im Anschluss an die Vorträge bzw. in der Abschlussdiskussion, die durch Sebastian Musch moderiert wurde, bezogen sich auf zwei größere Themenfelder. Zum einen wurde deutlich, dass sich die Kategorie Digital Humanities nur bedingt eignet, um interdisziplinär nicht nur Fächer der Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern auch quantitativ arbeitende Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften oder die unterschiedlichen Fachgebiete der Informatik zu integrieren. Daneben wurde rasch klar, dass die digitale(n) Revolution(en), die sich gerade in unserer Gesellschaft, insbesondere aber auch in der Wissenschaft und an der Universität in Forschung und Lehre vollziehen, ein hohes Maß digitaler Kompetenzen erfordert, deren Zuschnitt sich gerade erst entwickelt und ständig verändert. Das erfordert einerseits Raum für Experimente, Erkundungen und Reflexion bei dem von allen Referen:innen geteiltem Ziel, Studierende so auszubilden, dass sie gestaltend und nicht nur konsumierend mit den Potentialen und Herausforderungen der Digitalisierung umgehen können. Eine Kooperation zwischen Fachwissenschaft, Didaktik und Informatik auf Augenhöhe, die von Anfang an auch die universitäre Lehre mitdenkt und über die üblichen Rahmungen der Digital Humanities hinaus reicht – so wie gerade in der UOS-Lehrzeit zu VR in der Geschichtswissenschaft praktiziert – schien vielen Diskutant:innen als ein Osnabrücker Weg auf dem diese Ziele erreicht werden können.
*****
Das Programm des DH-Workshops am 4. Mai 2023
Digital Humanities – Berichte aus interdisziplinärer Praxis.
Geschichtswissenschaft & Didaktik, Geographie & Informatik im Dialog über Potentiale von 3-D Modellierung und Virtual Reality in Forschung und Lehre
Begrüßung: Prof. Dr. Christoph Rass
Prof. Dr. Christoph Rass,
Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften/Neueste Geschichte
3-D Modellierung und Virtual Reality in geschichtswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen? Werkstattbericht einer UOS-Lehrzeit.
Prof. Dr. Lale Yildirim & Imke Selle
Didaktik der Geschichte
Digital Literacy als Chance für partizipative digital public history im Geschichtsstudium
Prof. Dr. Michael Brinkmeier
Didaktik der Informatik
Gedächtnispaläste und mehr: Lernräume in Virtual Reality
Dr. Thom Jarmer & Marcel Storch
Arbeitsgruppe Fernerkundung
Terrestrisches Indoor-Laserscanning: Der Osnabrücker Friedenssaal in 3-D
Mirjam Adam & Andre Jepsen
Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften/Neueste Geschichte
Geohistorical Approach: Digitale Erfassung und Vermittlung historischer Boden|Spuren
PD Dr. Frank Wolff & Prof. Dr. Christoph Rass
Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften/Neueste Geschichte
Mehr als digital twins: Virtualisierte Ausstellungen und Geschichtsvermittlung
Abschlussdiskussion
Moderation und Diskussionsleitung: Dr. Sebastian Musch